Dienstag, 9. Oktober 2012

Kontroll-Überschuss

Passender Weise beschreibt Dirk Baecker die aktuelle Kulturrevolution, die alles Bisherige auf den Kopf stellen wird (wie einst der Buchdruck), als gekennzeichnet durch Reaktion in Form von "Kontrolle".

Gerd Altmann  / pixelio.de
"Und jetzt die nächste Gesellschaft. Ihr Problem ist seit der Einführung des Computers nicht mehr der Kritiküberschuss [Anmerkung: "Kritik" als Prinzip, um zur wissenschaftlichen und mündigen Aufklärung zu gelangen, die durch das Medium des Buchdrucks dominiert wurde], sondern der Kontrollüberschuss.

Als mainframe, als Laptop und im Netz steht der Computer paradigmatisch für eine Form der Teilnahme an Kommunikation, die undurchschaubar und unumgehbar zugleich ist. Als ein Rechner, der nicht mehr nur über Input und Output, sondern zusätzlich über sein eigenes Gedächtnis, seine Daten und Programme gesteuert wird, gewinnt das Verbreitungsmedium Computer eine Eigendynamik, die die Gesellschaft zwingt, sich auf einen neuen Sinnüberschuss, und wiederum: diesen selektiv reduzierend und auch dadurch mittragend, einzustellen.

Dieser Kontrollüberschuss besteht über den Computer hinaus darin, dass man allerorten, in den Ökosystemen der Natur wie in den Netzwerken der Gesellschaft, anfängt, damit zu rechnen, dass nicht nur die Dinge andere Seiten haben, als man bisher vermutete, und die Individuen andere Interessen (oder auch: gar keine) haben, als man ihnen bisher unterstellte, sondern dass jede ihrer Vernetzungen Formkomplexe generiert, die prinzipiell und damit unreduzierbar das Verständnis jedes Beobachters überfordern.

Kontrollüberschuss heißt daher zunächst und vor allem, dass auch der Beobachter von Verstehen auf Kontrolle umstellen muss, das heißt vom Versuch hermeneutischer Sinnauslegung, der an der Unzugänglichkeit der Selbstreferenz scheitert, auf die Beobachtung und das Protokoll der eigenen Erfahrungen im Spiegel der eigenen Erwartungen, das heißt auf das eigene Gedächtnis und dessen durchaus misstrauische Überwachung.
[Anm.: Wir treffen unsere Entscheidungen vermehrt auf der Grundlage, wie wir Zusammenhänge persönlich deuten - und nicht mehr auf rein wissenschaftlich aufgeklärten Fakten, da die Reizüberflutung an Informationen eine eindgültige Instanz der Wahrheit geradezu ausschliesst.]

Am eigenen Defizit einer nur unzureichend möglichen Kontrolle in diesem Sinne eines Mitvollzugs des eigenen Gedächtnisses bekommt es der Beobachter, wenn man so will, mit dem Sinnüberschuss der nächsten Gesellschaft zu tun. Deren Struktur kombiniert den Anlass der Kontrolle mit deren Überforderung, so dass es jetzt nicht mehr nur darum geht, das freie Spiel der Referenzen, die Autorität der Symbole oder das individuelle Recht auf Kritik in seine Schranken zu weisen, sondern zusätzlich darum, das Gelingen und das Scheitern von Kontrolle als die beiden Seiten einer Medaille zu begreifen. Mit beidem reproduziert sich die nächste Gesellschaft. Denn nur beides zusammen produziert jenes Material, aus dem die Kontrollprojekte der einen entstehen und die Kontrollprobleme der anderen."


Dirk Baecker - "Studien zur nächsten Gesellschaft“ Suhrkamp 2007 - Kapitel: "Was hält Gesellschaften zusammen?"
16 Thesen von D. Baecker


Für die Piratenpartei bedeutet dies: 

Die Kontrolle mit ihren Werkzeugen (z.B. Transparenz) ist ein Phänomen der aktuellen Kulturrevolution, die auf den technischen Möglichkeiten der Computer, des Internets und der neuen Medien basiert. 

Dies zu durchschauen und die richtigen Handlungsanweisungen zu geben, wird nur denjenigen gelingen, die sich auf die Denk- & Handlungsweise der "digital natives" einlassen können. In dieser Kulturrevolution liegt das Potential der absoluten Kontrolle, absoluter Transparenz und absoluter Automatisierung genauso verborgen, wie die Chance automatisierbare Prozesse menschlich zu gestalten, die Grenzen der Automatisierung und Kontrolle regulierend zu erfassen und auch der unkalkulierbaren (unkontrollierbaren) Natur z.B. des Menschen ihren freien Lauf zu gewähren. 

Es geht nicht um Transparenz, es geht um Kontrolle. Transparenz und Nachvollziehbarkeit sind nur Mittel, um eine sinnvolle Kontrolle ausüben zu können - auch, da die bisherige Funktion der Freien Presse, von aussen kritisieren zu können, nicht mehr genügt und allzuleicht (ohne Transparenz von Innen) korrumpiert werden kann. Datenschutz sowie der Schutz von Privatsphäre und zwischenmenschlicher Vertraulichkeit sind wiederum sinnvolle Grenzen einer absoluten Kontrolle, wie sie zB. durch den Gläsernen Bürger - aber auch Gläsernen Staat - möglich wären. 

Die Automatisierungen und das System - und nicht die Menschen - sind zu kontrollieren und in Schranken zu weisen. Der Mensch hat die Oberhand über die Kontrollfunktionen zu behalten und darf diese nicht an Automatisierungen abgeben. Das Potential der (Neuen) Medien ist dazu einzusetzen, dass die wissenschaftliche Aufklärung durch Freie Bildung für jeden Bürger zugänglich ist und die Grundlage für mündige Selbstbestimmung gegenüer ausuferndem Kontrollverhalten erhalten bleibt.


>>> "Es geht nicht um Transparenz - es geht um Kontrolle!"

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